Dienstag, 10. August 2010

Messie History

Ein alter Artikel aus den Anfängen der Messiebewegung

„„PSYCHOLOGIE
Die im Chaos leben
Montag 16.11.1998, 00:00 • von FOCUS-Autorin Stella Bettermann
Chronisch unorganisierte Menschen nennen sich neuerdings „Messies“ – und suchen Rat in Selbsthilfegruppen
Die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung wird leiser, Pausen dehnen sich aus, angefüllt, man ahnt es, mit Scham. Nein, gibt die junge Frau dann atemlos zu, die Infobroschüren habe sie nicht auf die Post gebracht, das Gespräch von vergangener Woche ganz vergessen, die Notiz wohl auf unerklärliche Weise verloren . . .

Peinlich, aber nicht überraschend, schließlich bekleidet die Dame ein Amt, das ein Widerspruch in sich ist: Susanne Herms ist die Organisatorin der Unorganisierten. Sie betreut „Messies“, abgeleitet von „mess“ für Unordnung – und ist eine von ihnen.

Ein Name für das Chaos. Daß manche Menschen Probleme haben, „Struktur in ihr Leben zu bringen“, wie es der Offenbacher Psychotherapeut Werner Gross nennt, ist als psychologisches Phänomen bekannt. Relativ neu ist das Etikett „Messie“, das bei uns gerade eine Wortkarriere macht wie vor einigen Jahren der Begriff „Mobbing“.

In den USA existiert der Messie bereits seit den 80er Jahren. Erfunden wurde er im wenig wohnlichen Heim einer Lehrerin aus Florida, die, nachdem die Verwahrlosung Renovierungsmaßnahmen notwendig machte, ihr Chaotentum in den Griff bekam, fortan Leidensgenossinnen mit Tips für die besonders schlechte Hausfrau versorgte. Heute gilt Sandra Felton auch bei uns als Heilsbringerin weiblicher wie männlicher Messies.

Seit rund zwei Jahren treffen sich Unordentliche in Deutschland zum Erfahrungsaustausch und Aufräumtraining á la Felton in Selbsthilfegruppen, den „Anonymen Messies“. Unlängst fand in drei Städten der erste Messie-Kongreß statt, „und nach jedem Artikel stehen 35 Neue bei uns auf der Matte“, berichtet ein Berliner, der sich, so ist das bei anonymen Selbsthelfern üblich, bei seinem Vornamen Jochen nennen läßt.

Profi im Job, privat ein Chaot – Jochens Biografie ist eine typische Messie-Laufbahn. Beruflich ist der Systemanalytiker zuverlässig, geradezu ein Erbsenzähler. Sein privates Chaos hielt sich so lange in Grenzen, wie es die hinter ihm aufräumende Ehefrau mit ihm aushielt. Nach Trennung und Auszug lebte er aus Umzugskartons, die sich neben den Einzelteilen nie aufgebauter Regale stapelten. „Schließlich wollte ich das total perfekt machen.“ Doch dazu kam es nicht, denn Rationalisierungsmaßnahmen in Richtung Kleidersammlung überfordern Messies emotional, sie hängen an dem Kram, der sie umspült – am ersten Anzug und an allen im Lauf des Lebens erstandenen Socken, oft an Zeitungen und Broschüren. Schließlich bricht alles, im Wortsinn, zusammen. „Was glauben Sie, wie schwer es ist, Magazine meterhoch stabil zu stapeln“, klagt Jochen.

„Unordnung ist die Wonne der Phantasie“, so heißt es. Tatsächlich werden Messies als kreative Zeitgenossen beschrieben. Wenn die Inspirationsquellen dann aber zur Flut anschwellen, versiegt der Spaß am Sammeln und macht dem Selbsthaß Platz. „Der Leidensdruck ist oft immens“, berichtet Psychotherapeut Gross. „Wie ein Hund hinterlasse ich überall in der Wohnung Markierungen“, erzählt etwa die Münchner Studienrätin Helga. Die derbe Metapher mag nicht recht zu der adretten 38jährigen mit den patzerlos lackierten Fingernägeln passen, ebensowenig wie die Beschreibung ihres häuslichen Ambientes: „eine Rumpelkammer“.

„Der Messie entwickelt einen Tunnelblick, er nimmt das Chaos lange nicht wahr“, erläutert Messie-Guru Sandra Felton. Lassen sich dann aber kaum mehr Schneisen schlagen, und ist die Lohnsteuerkarte im Durcheinander für immer verloren, übermannt ihn schließlich Panik – er kapselt sich ab und verzweifelt an der schier unlösbaren Aufgabe, Ordnung zu schaffen.

Anlässe, die aus kreativen Chaoten verzweifelte Messies werden lassen, sind individuell verschieden. Die häufigsten: Frauen trifft es nach dem ersten Kind, Männer nach der Scheidung. Drei Haupttypen könne man unterscheiden, katalogisiert Psychotherapeut Werner Gross: Da gibt es die Horter, die unpünktlichen Zeitmessies und die Chaos-arbeiter, die Infos oder unerledigte Aufträge hamstern.

Auf solche Büromessies haben sich Aufräumdienste spezialisiert, wie ihn Edith Stork, eine resolute Frankfurterin, führt: Rigoros trichtert sie den Schreibtischtätern Ordnungssinn ein. Gegen erneutes Unterlagenwachstum gehen die Büro-Ordner mit Kontrollbesuchen vor – unangemeldet, versteht sich, wie einst in der Schule, als strenges Lehrpersonal die Fächer unter den Bänken filzte, gammelnde Brötchen mit spitzen Fingern zwischen Heften hervorpulte und die Chaoten – meist altbekannte Kandidaten – dem Spott preis gab.

Das Schlamperstigma. Die meisten Messies haben eine „Historie der Demütigungen“ hinter sich, so die Esslinger Psychologin Cordula Neuhaus. Mancher kompensiert seine Schwäche später mit beruflichem Perfektionismus, „privat kriegen sie das nicht hin.“

Verhaltenstherapie und Anleitungen zum Aufräumen können den Weg aus dem Chaos – ganz allmählich – ebnen, sind sich Psychologen einig. Allein die Ursachen des Messietums sind umstritten: „Es kann in der Familie erlerntes Verhalten sein“, kolportiert Psychologe Werner Gross die Meinung der Fraktion, die Messietum „als Symptom mit verschiedenen Ursachen“ betrachtet. Seine Kollegin Neuhaus hält die Messie-Prädisposition dagegen für angeboren: „Die meisten Messies haben das sogenannte Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS). Diese Menschen können ihre Aufmerksamkeit schwer lange Zeit auf etwas konzentrieren“, urteilt sie. Evolutionsgeschichtlich sind ADS-Typen, so eine weitere Hypothese, auf dem Stand der Jäger und Sammler. Neuhaus: „Sie sind hochimpulsiv, immer auf dem Sprung.“

Die modernen Jäger „können in manchen Berufen absolut klasse sein“, betont die Psychologin. Oft sind sie erfolgreich als Broker, Ärzte oder Journalisten. „Unter meinen Patienten ist der Chefredakteur. Recherchieren ist kein Problem für den Mann“, gehe es aber daran, den Artikel zu schreiben, verzweifle er.

Daß die Blüten des Chaos krause Formen annehmen können, reflektieren Messies in ihren Sitzungen mit einer Stimmung zwischen Lachen und Weinen – das Problem Chaos ist überwältigend wie lächerlich. Sogar mit Selbstmordfällen ist der Berliner Jochen in seiner Gruppe konfrontiert gewesen. Die Fahrt zum Kongreß nach Hannover dagegen war eine Episode mit Slapstick-Charakter: „Ich sag´ nur soviel: Kriegen Sie mal zwölf Messies rechtzeitig in einen ICE!“

„Wenn der Heizungsableser kommt, da kriegt der Messie Panik, da macht er sich fertig“ Jochen, „Anonymer Messie“ in Berlin

TYPISCHE CHAOTEN

Die Horter

heben alles auf – Papierberge, Klamotten, Nippes, Müll.

Zeitmessies

sind chronisch unpünktlich, verwechseln Termine.

Chaosarbeiter

verwüsten das Büro oder nehmen zu viele Aufträge an.““

Diese Artikel aus dem Jahr 1998 fanden wir im Focus veröffentlicht.
FOCUS Magazin | Nr. 47 (199
8)

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